Auch diese Fußspuren führen wieder ins Nichts. Enden so abrupt, wie sie angefangen haben. Vielleicht sind es auch unsere eigenen. Wir finden keinen Weg aus dieser schwarz-weißen Ödnis. Es ist weit nach Sonnenuntergang und die letzten Lichtschimmer am Himmel lösen sich in Dunkelheit auf. Nur noch schemenhaft heben sich die Silhouetten der umliegenden Vulkane gegen den Himmel ab. Wir irren noch ein paar Minuten zwischen den Eis- und Schneefeldern hin und her. Der Weg lässt sich nicht mehr erkennen. Aussichtslos. Das Taschenlampenlicht verendet nach wenigen Metern im Nichts, wird von dem schwarzen Stein einfach verschluckt.
Unschlüssig und stumm sehen wir uns an. Matthieu und ich wollen noch nicht aufgeben, die Vorstellung, die ganze Nacht in Eiseskälte, ohne Essen und Trinken auf diesem Vulkan zu verbringen, ist nicht gerade erbaulich. Aber Alan, der Erfahrenste von uns, erklärt die Suche nach dem Weg für beendet. Es sei zu gefährlich, in der Finsternis über vereiste Bäche und loses Geröll zu stolpern. Wir füllen noch etwas Schnee in unsere leeren Wasserflaschen um Trinkwasser zu schmelzen. Dann bewegen wir uns langsam Schritt für Schritt auf den einzigen Felsen zu, der ein wenig Windschutz verspricht.
Wir drei hatten uns am Nachmittag auf einer Lichtung am Fuße des Berges Puyuehue in Chile beim Zeltaufschlagen kennen gelernt und spontan beschlossen, gemeinsam zum Sonnenuntergang den nahegelegenen Vulkan zu erklimmen. Auf dem Gipfel bot sich uns ein spektakuläres Schauspiel: Wolken, die sich minütlich von Drachen in Tiger verwandelten, orange-rote Lichtspiele und ein Blick über die atemberaubende, schwarz-glänzende Lavalandschaft. Mit ihren weißen Schneefeldern sah sie aus, als tauche ein riesiger Wal aus den Untiefen des Meeres auf. Wolkenbänder legten sich um die aufragenden Kegel und als wir uns endlich auf den Rückweg machten, war es bereits so dunkel, dass wir den Weg nicht mehr finden konnten.
Es ist inzwischen 20.30 Uhr, die ersten fahlen Sterne werden am Himmel sichtbar und wir sitzen, drei Fremde auf einem Vulkan im Herzen Chiles, mit dem Rücken an einen kalten Stein gelehnt in Erwartung einer bitterkalten Nacht auf 2300m Höhe. Natürlich hat keiner von uns eine Decke oder einen Pullover dabei, ganz zu schweigen von Schal oder Handschuhen. Den einzigen Schutz gegen die Kälte bietet Alans Rucksack, der uns als Unterlage gegen den Bodenfrost dient.
Wir diskutieren noch einmal unsere Lage und fassen die Möglichkeit ins Auge mit Hilfe des Mondlichtes in ein paar Stunden einen neuen Versuch zu starten.
Am Himmel sind inzwischen das Kreuz des Südens und der kopfstehende Orion sichtbar. Wir betrauern gerade seine rechte sterbende Schulter, die wohl in ein paar Jahren gänzlich erloschen sein wird, als vor uns plötzlich ein Licht auftaucht. Wir springen auf und versuchen auszumachen, in welcher Entfernung es sich befindet. Da, ein zweites. Ich greife nach der Taschenlampe und sende sechs kurze Signale. Aus dem Irgendwo kommt Antwort. Noch einmal. Sechsmal kurz. Die Hoffnung auf Rettung lässt mein Herz schneller.
Warten.
Die Lichter bewegen sich, kommen langsam, sehr langsam auf uns zu. Erlöschen zwischendurch, verschwinden im Wald, tauchen an anderer Stelle wieder auf.
Ich sende wieder Signale. Wie Diebe schleichen die Lichtkegel herum, verschwinden erneut hinter den Bäumen oder sind nur noch als diffuser Schein zu erkennen.
Erneutes SOS von uns.
Funkstille.
Es bleibt dunkel.
Ich halte den Atem an, mein ganzer Körper ist unter Spannung. Gebannt starre ich auf die Stelle, an der die Lichter verschwunden sind.
Die Gedanken in meinem Kopf rasen und ich schicke ununterbrochen Stoßgebete zum Himmel.
20 Minuten vergehen.
Keine weiteren Signale.
Die Hoffnung der letzten halben Stunde weicht einer tiefen Enttäuschung. Wir haben während der ganzen Aktion kein Wort miteinander gewechselt, unsere Blicke nur starr in die Dunkelheit gerichtet. Nun versuchen wir, uns unsere Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Alan erzählt einen Witz und wir bemühen uns alle, uns gegenseitig aufzumuntern.
Eine Sternschnuppe saust den Himmel hinunter und ich glaube, wir wünschen und alle drei das Gleiche.
Wir kauern uns wieder an unseren Stein und bereiten uns auf eine schlaflose, eisige Nacht vor. Das kalte Gestein zieht mir die letzte Wärme aus dem Körper. Meine Zehen sind jetzt schon nicht mehr zu spüren. Ich stehe auf, trippele von einem Fuß auf den anderen, setzte mich wieder. Wir erzählen uns Reisegeschichten, finden heraus, dass Australien der einzige Kontinent ist, auf dem es keine Gletscher gibt und Samuel Morse das Morse-Alphabet gar nicht erfunden hat. Die Zeit plätschert dahin und der Wind fegt in eisigen Böen über uns hinweg.
Wenn keiner was sagt, ist das Warten unerträglich. Immer wieder die gleichen Fragen im Kopf: Warum habe ich nichts Warmes mitgenommen? Wieso gehe ich diese Risiko ein? Und verdammt noch mal, wieso verlaufen wir uns gerade auf dieser Tour? Warum habe ich nicht wenigstens vorher noch was gegessen? Warum haben wir nicht früher den Rückweg angetreten? Was für eine bekloppte Idee – zum Sonnenuntergang auf dem Gipfel zu klettern. Wie blöd bin ich eigentlich?
Zum hundertsten Mal richtet sich mein Blick zurück auf den Kraterrand, aber es ist nichts zu erkennen, keine Spur, kein Pfad, kein einziger Hinweis.
Plötzlich schiebt sich ein leuchtender Kegel über die Kante. Was ist das? Er kommt näher, wird heller, größer und bewegt sich wie ein riesiges Ungeheuer auf uns zu. Mir bleibt fast das Herz stehen. Erschrocken blicke ich die anderen beiden an und deute mit dem Finger in die Richtung. Doch es ist nur der Mond, der hinter dem Vulkan aufgeht. Ein fahler Schimmer legt sich über die Szenerie, zu wenig, uns den Weg zu leuchten.
Immerhin regnet es nicht. Oder schneit. Alleine wäre ich vermutlich wahnsinnig vor Angst. Ich würde mich gerne an die beiden ankuscheln. Trau mich aber nicht. Stattdessen schlinge die Arme um meinen Körper und schlottere vor mich hin.
Viertel vor zwölf.
Aus dem kleinen Ort im Westen wabern einige Lichter zu uns herauf. Wie ein Ufo, das jederzeit abheben könnte, liegt er da. Ansonsten ist nichts zu sehen, nichts zu hören als das Rauschen des Windes, der mir die feine Asche in die Augen bläst.
Inzwischen sind wir näher zusammengerückt und erzählen uns weitere Geschichten. Plötzlich taucht wieder ein Lichtkegel auf, näher als noch Stunden zuvor. Wir springen auf, starten erneute Leuchtsignale, pfeifen und schreien uns die Seele aus dem Leib. Doch der Zauber dauert nur wenige Minuten, dann ist alles vorbei. Der Abhang ist wieder in dunkle Nacht gehüllt und scheint schwärzer als zuvor. Natürlich ist mir klar, dass uns eigentlich niemand sucht. Schließlich weiß ja niemand, dass wir hier oben sind. Aber die Sehnsucht nach Rettung hat mich für einige Momente vergessen gemacht, wie aussichtslos unsere Situation ist. Keines der Lichter bewegte sich wirklich auf uns zu, keines der Lichter war wirklich ein Signal.
Wir vermeiden es, uns anzusehen. Ich frage mich zum hundertsten Mal, ob wir uns nicht doch auf den Weg machen sollten. Aber wo ist der verdammte Pfad? Nach einem erneuten Blick auf die vereisten Bäche und Schneefelder verwerfe ich die Idee wieder.
1.15 Uhr.
Alan findet in seiner Jacke zwei Müsli-Riegel. Mein Magen fängt sofort an zu knurren. Aber nun kehrt Alan seine sadistische Ader heraus: Das Wichtigste in unserer Situation sei, sagt er, sich Ziele zu setzten, für die es sich lohne, durchzuhalten. Ich starre ihn verständnislos an. Dann verkündet er, dass wir den ersten Riegel erst um 2.00 Uhr und den zweiten um 4.00 Uhr essen werden. Ich weiß nicht, warum ich ihm nicht einfach den verdammten Riegel aus den Händen reiße und reinbeiße.
Die Kälte breitet sich weiter im ganzen Körper aus und Matthieu erzählt, wie die Pinguine sich gegenseitig wärmen. Inspiriert davon stellen wir uns im Kreis auf, hüpfen auf der Stelle und rubbeln uns gegenseitig mit den Händen die Rücken warm.
2.00 Uhr, feierlich zelebrieren wir unser erstes Nachtmahl: Alan bricht den Müsliriegel in drei Teile und versucht dabei wie Jesus auszusehen. Mein Magen verlangt sofort nach mehr, aber der zweite Riegel bleibt unter Verschluss. Wir vertreiben uns die Zeit mit Rätselraten und spielen all die Spiele, die ich schon als Schülerin in Feriencamps gehasst habe.
„Hauptsache, nicht einschlafen“, gibt Alan mal wieder eine Weisheit zum Besten, „das könnte lebensbedrohlich werden.“ – Ich find´s ja hier ehrlich gesagt auch nicht so kuschelig, dass ich es mir gemütlich machen wollte….
Alle zwanzig Minuten machen wir von nun an den Pinguin, springen auf der Stelle, rubbeln uns gegenseitig warm und rücken anschließend näher zusammen.
Ein menschliches Knäuel vor einem einsamen Felsen.
„Ich will ja nicht vertraulich werden…, aber weißt du….“, entschuldigt sich Alan. „Ja, ich weiß….“, antworte ich und lege meine Arme um die beiden.
Jeder hängt seinen Gedanken nach und ich verbiete mir, auf die Uhr zu schauen.
„Maria liegt tot im Zimmer. Zersplittertes Glas um sie herum. Was ist passiert?“ werfe ich ein neues Rätsel in die Runde. Mit halbherzigen Fragen versuchen ihm die beiden auf die Spur zu kommen und lassen zwischendurch den Pinguin mitraten.
4.00 Uhr – Zeit für den zweiten Müsliriegel. Aber Alan kommt auf die glorreiche Idee, ihn bis Sonnenaufgang aufzuheben, um „Energie“ für den Abstieg zu haben. Also kein Müsliriegel. Stattdessen wieder den Pinguin.
Mittlerweile haben wir uns zwecks Austausch von Körperwärme so eng wie möglich miteinander verknäult, Alan ein neues Rätsel stellt: „Ein Mann wandert zu einer Hütte und sieht eine Frau lesend an einem Baum sitzen. 12 Stunden später sitzt er zwischen ihren Beinen. Was ist passiert?“
5.20 Uhr. Ich finde in meiner Hosentasche ein paar Pfefferminzbonbons und so gönnen wir uns eine kleine Zwischenmahlzeit.
Wann kommt endlich diese verdammte Sonne zum Vorschein? Ich spüre meinen Körper kaum noch. Alle 20 Minuten zwingen wir uns zum Pinguin.
Dann endlich, um 6.25 Uhr zeigt sich ein zögerlicher Schimmer am Himmel. Ich reibe meine steifen Glieder. Matthieu erhebt sich langsam und kratzt „We slept here“ in unseren Felsen, dann machen wir uns auf den Weg und unsere kalten Knochen klappern im Takt. Irgendwie hatte ich mir einen Tanz auf dem Vulkan ja anderes vorgestellt…
(c) Tatjana Bielke
Der Vulkan Puyehue liegt in Chile: Zur Karte
Bildnachweis: Ahtih, CC BY 3.0